Wieso ich Wien liebe. Und trotzdem gern woanders bin.

Jan Pöltner Vom 19.10.2016
Ich liebe Wien. Es ist meine Heimatstadt und die lebenswerteste Stadt der Welt. Nicht, weil ich hier wohne, sondern ganz offiziell. Laut Mercer Studies bereits das siebte Jahr in Folge. Aus gutem Grund: Wien ist sauber, sicher, effizient, hat ein Top-Bildungsangebot, unzählige Naherholungsgebiete und herrliches Essen.

Außerdem einen Charme, den nicht mal Armin Assinger zu seiner Glanzzeit übertreffen könnte. Wenn es schneit, sind die Straßen geräumt und der nächste Berg für Wintersport und Jagertee gerade mal eine Stunde entfernt. Wenn es plusminus 30 Grad hat, lädt die alte Donau zum Schwimmen ein und auch die grantigsten Wiener kriechen aus ihren Beisln. Wien ist anders – vielleicht nicht so cool und hip wie Berlin, Tel Aviv oder Kapstadt – aber es ist schön, hier zu leben. Es ist die einzige Hauptstadt mit signifikantem Weinbau innerhalb der Stadtgrenzen. Und einer signifikanten Anzahl an Wein- und Spritzertrinkern.

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Wien ist grantig, multikulti und liebenswert. Zwischen „Drah di ham“, „ein Kebap mit Alles“ und „Küss die Hand, schöne Frau“ – umgeben von kaiserlichen Residenzen, prachtvollen Fassaden und mintgrünen Kuppeldächern kann man sich hier ganz schön wohlfühlen. Und trotzdem hat der klassische Wiener immer was zum Raunzen. So wie ich im folgenden Absatz. Denn in mir steckt das prinzipielle Bedürfnis wegzugehen.

Mit Weggehen meine ich nicht (primär) den abendlichen Ausflug zum Heurigen, sondern das Reisen. Ich bin 23 Jahre alt und habe mehrere Wochen und Monate meines Lebens woanders verbracht. Innerhalb Österreichs, in Europa, in Asien, in Afrika. Und ich stehe kurz davor, wieder zu gehen.

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Ich gebe zu, es ist ein Zwiespalt. Bin ich in Wien, vermisse ich das Meer, die unkomplizierte Art zu leben und die meist offenere Einstellung zu vielen Dingen, als die der Wiener. Bin ich woanders, vermisse ich mein Schnitzerl, meinen Spritzer und den Wiener Schmäh. Es ist ein Hin und Her zwischen Sicherheit und der Erfüllung von Träumen. Zwischen sesshaft werden und durchs Leben zigeunern. Zwischen Bim fahren und dem Gefühl, fliegen zu können. Aber, sprechen wir hier tatsächlich nur von der Liebe zu einer Stadt oder heißt es zwischen den Zeilen zu lesen? Der Sorge, gesellschaftlichen Normen nicht mehr gerecht zu werden aufgrund der Tatsache, sich seinen Träumen hinzugeben? Den Drang nach Abenteuer womöglich hinter sich zu lassen, um einem Leben nach den Vorstellungen anderer nachzugehen? Oder ist es eine Ausrede für den Mut, der vielen fehlt, ihr gemütliches Kaffeehaus zu verlassen?

Ich frage mich, wie Fernweh so stark mit der Sehnsucht nach Heimat korrellieren kann. Aber irgendwie ist das wie mit der Diskussion damals um die Mariahilferstraße: es ist mir egal. Ich geh wohin mein Herz mich trägt. „Was gibts’n woanders, was‘ bei uns nicht gibt?“ hab ich nicht nur einmal gehört. Ich bin mir dem hohen Lebensstandard meines Heimatlandes definitiv bewusst und schätze ihn sehr. Ich bin nicht der Meinung, dass es woanders immer besser sein muss. Woraus mein Zigeuner-Gen resultiert, weiß ich nicht, aber ich weiß: ich will mehr sehen. Mit einem weiteren Horizont durch das Leben gehen, als ein Fiakerpferd mit Scheuklappenblick. Ich will mehr sehen, als Hernals, Meidling und den Semmering. Mehr spüren, als meinen Kopf am Tag nach ein paar Krügerl. Und Meer riechen, als einen Mix aus Hopfen und Haselnusscreme (welcome to Ottakring).

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Denke ich ans Reisen, habe ich mir bereits unzählige Träume erfüllt. Ich habe mehr gelernt, als in der Schule und der Universität zusammen. Über die Welt, über Andere, vor allem aber über mich selbst. Und ich habe meine Heimatstadt (und die Wiener Linien – unglaublich, aber wahr) zu schätzen gelernt. Ich liebe es, Neues zu erleben, in andere Kulturen einzutauchen, zu lernen, wie Dinge woanders funktionieren (oder eben nicht). Kontraste und Gemeinsamkeiten zu erkennen. Am Leben teil zu haben und reicher zu werden. Geistreicher, weltreicher, reicher an Bekanntschaften und Geschichten. Ich liebe es, durchs Leben zu zigeunern und mich ab und zu verloren zu fühlen. Manchmal muss man sich eben verloren fühlen, um sich selbst zu finden.

Ich frage mich oft, wo ich eigentlich hingehöre. Ich könnte genauso gut in Istanbul, Kuala Lumpur oder Gramatneusiedl aufgewachsen sein. Bin ich aber nicht. Trotz meiner Liebe zur Heimat gehe ich also gerne weg. Ich freue mich dennoch immer genauso auf das Wiederkommen. Im Endeffekt bin ich mir sicher, egal wie weit, lang oder kurz ich reisen werde, ob ich nun in eine andere Stadt ziehe, oder nicht – tief im Herzen gehöre ich zu Wien, wie das 16er Blech zur Eitrigen, der Badewaschl ins Gänsehäufel und der Spritzer in meine Hand. Prost.

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Alle Fotos (c) Katja Hatvan