People of S-Bahn

Wer ist das da eigentlich, der mir da in der S-Bahn gegenübersitzt? Wo fährt er hin? Und viel wichtiger: Was macht er dort? Wenn ihr euch diese Fragen auch schon einmal gestellt habt, dann seid ihr hier richtig. Wir haben sie nämlich endlich mal gestellt. Fremden Leuten. In der Wiener S-Bahn. Einen Tag lang. Was dabei rauskam? Lest am besten selbst.
Viktoria Klimpfinger Aktualisiert am 18.10.2018
S-Bahn Wien

Habt ihr euch in der S-Bahn auch schon mal gefragt, warum die Frau euch gegenüber ein Wrestling-Kostüm trägt oder warum der Typ am anderen Ende des Wagons so verträumt aus dem Fenster starrt? Wir wollten uns mal genauer ansehen, mit wem wir da eigentlich jeden Tag unseren Weg zur Arbeit, auf die Uni oder zur Wahrsagerin teilen. Also haben wir unser Büro für einen Tag in die S-Bahn verlagert und haben wahllos Leute angequatscht. Kreuz und quer durch Wien und noch viiiel weiter!

[arve url=“https://youtu.be/buxgqp4w2E0″ title=“People of S-Bahn“ description=“Wir sind einen Tag lang S-Bahn gefahren. “ upload_date=“17.10.2018″ /]

The foodtruck saved our hungry souls

Noch ist der Himmel dunkel, als wir um 6:30 Uhr vom Wiener Westbahnhof nach Eichgraben losstarten. Der Wagon ist leer, unsere Blicke auch. Als wir eine gute halbe Stunde später auf den Eichgrabener Bahnsteig stolpern, sinkt die Stimmung kurz: Kein Kaffee weit und breit und eine weitere halbe Stunde Wartezeit auf die nächste S-Bahn Richtung Wien. Doch dann die Rettung: ein Standl, das man in anderer Umgebung mit anderem Anstrich und anderem Angebot wahrscheinlich „Foodtruck“ nennen würde. Hier, in unmittelbarer Nähe zum Wienerwald, ist es aber einfach ein Stand, der Kornspitz, Käsestangerln und Co. verkauft und uns mit Filterkaffee und Milch zum Selbstbedienen die Morgenstimmung rettet.

Sabine, 44, Key Account Managerin

Wir verdrücken unsere Cakepops, die wir hier nicht erwartet hätten, exen unseren Kaffee und suchen zurück am Bahnsteig nach weiteren Gesprächspartnern für unsere S-Bahn-Experience. Am Anfang ist es noch eine Mordsüberwindung, wildfremde Leute in aller Frühe anzusprechen und ihnen zu erklären, dass wir eigentlich nur plaudern wollen. Doch nach der dritten eiskalten Abfuhr regt sich in uns der kleine Jetzt-erst-recht-Johnny. Und prompt treffen wir Sabine (44) die gerade auf die S-Bahn nach Wien wartet. Noch etwas verschlafen erzählt sie uns, dass sie von hier weg jeden Tag nach Wien Hütteldorf und retour fährt. Dort arbeitet sie in einer Firma als Key Account Managerin. Warum nicht mit dem Auto?, fragen wir sie. Sabine wirkt nämlich irgendwie wie eine Autofahrerin. Nach Wien hinein fährt sie lieber mit der S-Bahn, weil das einfach komfortabler ist. Sie kann ihr Handy in der Steckdose aufladen und dabei gemütlich aus dem Fenster starren. Stimmt also. Würden wir auch so machen.

Wien S-Bahn
Sabine fährt jeden Tag mit der S-Bahn in die Arbeit. (c) Ines Futterknecht

Roman, 34, Leiter im Produktmanagement

Und schon braust der Zug in die Station. Wir verabschieden uns von Sabine, steigen ein und sichern uns einen Viererplatz. Dann durchstreifen wir den Zug nach potenziellen weiteren Interviewpartnern. Auch hier fühlt es sich am Anfang noch komisch an. In jedem Abteil tastet unser Blick den ganzen Raum ab, als würden wir eine heruntergefallene Kontaktlinse suchen. Die Leute erwidern das mit skeptischen Augenbrauen. Und dann treffen wir Roman (34), den wir einfach mal präpotent beim Lesen stören. Aber er freut sich sichtlich über Gesellschaft. Er wohnt noch nicht so lange in Eichgraben und fährt daher immer alleine nach Wien, wo er als Leiter im Produktmanagement arbeitet. Es amüsiert ihn, wie viel im Herbst plötzlich wieder los ist in der S-Bahn, weil die Schule wieder losgeht und die Schüler – so wie er – nach Wien pilgern. Wir überlassen Roman wieder seiner Lektüre. Er nickt uns lächelnd nach. Und knappe 40 Minuten später sind wir auch schon in Hütteldorf.

ÖBB S-Bahn
Roman freut sich sichtlich über etwas Gesellschaft auf dem Weg zur Arbeit.

Mirad, 38, Journalist

Hier steigen wir um in die S45 Richtung Handelskai und gleich fällt uns auf, dass hier viele Fahrgäste ihre Räder dabeihaben. Haben sie ihre eigene Kondition überschätzt und nach der Hälfte des Weges schlappgemacht? Oder sind sie einfach faul und wollen nur vor den anderen nicht-bi-zirkulösen Fahrgästen posen? Nein, Mirad (44) erklärt uns, dass er normalerweise schon die ganze Strecke in die Arbeit zweirädrig zurücklegt. Aber heute war Sturm angesagt, also hat er lieber den Shortcut genommen. Also weder unsportlich noch faul, sondern einfach bedacht. Mirad ist Journalist. Da ist die ständige Informationsabfrage essenziell. Als wir Mirad anquatschen, war er gerade dabei, das Wlan der S-Bahn auszuprobieren, weil sein Handy-Internet streikt. Er zeigt uns die Auswahl der einzelnen Netze: „Welches muss ich da jetzt auswählen?“, fragt er uns. Da kennen wir uns leider auch nicht aus. Also lassen wir Mirad bei seiner Suche allein – er ist immerhin Journalist, er wird das schon rauskriegen. Weil wir aber doch neugierig sind – immerhin ist das Internet ja auch unser halbes Leben – erfahren wir später, dass wir OEBB als Netz auswählen hätten sollen. Irgendwie logisch.

S-Bahn Wien
Mirad sitzt neben seinem Rad in der S-Bahn.

Maria, 27, Studentin

Kurz bevor wir aussteigen wollen, fällt uns eine junge Frau auf dem Sitz neben uns auf, die Musik hört. Wir fragen in unbeholfener Zeichensprache umständlich, ob sie sich vielleicht die Stöpsel aus den Ohren ziehen will. Sie lächelt etwas eingeschüchtert – liegt vielleicht an unserem Gefuchtel –, spricht dann aber doch kurz mit uns. Und zwar auf Englisch. Maria (27) ist nämlich vor vier Jahren der Liebe wegen nach Wien gekommen. Geblieben ist sie für Studium und Arbeit. Und dann fährt der Zug auch schon bei Handelskai rein und wir müssen raus. Bye, Maria!

ÖBB
Maria wollte nicht aufs Bild. Das hier ist ein fast leerer Wagon. (c) Ines Futterknecht

Sawsan, 19, Schülerin

Hier haben wir ein wenig Zeit, bevor wir in den nächsten Zug springen müssen, und sehen uns am Bahnsteig um. Gehetzte junge Eltern mit Kinderwagen sausen uns entgegen. Männer und Frauen im Business-Outfit gehen noch mal ihr Memo durch, bevor die große Montagskonferenz beginnt. Die letzten Teenies, deren Schultag heute, warum auch immer, etwas später startet, warten angepisst auf den Transport zum Gepauke. Schließlich tippen wir Sawsan (19) an. Sie will zwar mir uns sprechen, weiß aber nicht, ob wir das auch wollen, weil sie nach eigener Angabe noch nicht so gut Deutsch spricht. Natürlich wollen wir! Auch sie ist gerade auf dem Weg in die Schule. In der S-Bahn liest oder lernt sie meistens auf dem Weg dorthin.

Schnellbahn
Sawsan würde die S-Bahn jederzeit der U6 vorziehen. (c) Veronika Micheli

Friedrich, 76, Pensionist

Unsere S3 nach Stockerau fährt in die Station ein. Wir bedanken uns bei Sawsan. Sie lächelt und geht mit bedachten Schritten Richtung Zug. Auch wir steigen ein in einen Zug, der kaum etwas mit den modernen S-Bahnen, die wir bis jetzt unsicher gemacht haben, gemeinsam hat. Während wir uns auf den abgenutzten Sitzen der alten Garnitur ausbreiten, bekommen wir fast nostalgische Gefühle. Der Zug ruckelt und bringt uns irgendwie in Reisestimmung. Draußen ziehen Häuser und schließlich Felder vorbei. Drinnen ist es ruhig. Offenbar fährt kaum jemand am Montag um 10:00 Uhr nach Stockerau. Außer Friedrich (76), der unsere Kamera seit wir eingestiegen sind aus einiger Distanz neugierig beäugt. Er wirkt wie der klassische Großvater in Schieberkappe, Windjacke und Jeans, also setzen wir uns zu ihm.

Schnellbahn ÖBB
Das ist noch nicht Friedrich. Das ist der nostalgie-weckende Zugwagon. (c) Ines Futterknecht

Gelassen plaudert er mit uns. Er kommt gerade von einem Besuch in Wiener Neustadt und fährt nach Hause nach Korneuburg. Was er in Wiener Neustadt gemacht hat, wollen wir natürlich wissen. Er hat eine Freundin besucht. Das macht er alle 14 Tage. Da fährt er schon gute eineinhalb Stunden. Was macht man da, wenn man weder Instagram noch Facebook durchscrollen kann, wovon wir bei Friedrichs fortgeschrittenem Alter jetzt einfach mal ausgehen. Er liest stattdessen Zeitung oder schaut einfach beim Fenster raus, sagt er entspannt. Manchmal kann das aber auch ziemlich enervierend sein, weil die anderen Fahrgäste ihm durch lautes Sprechen, stundenlanges Telefonieren oder geruchsintensives Essen keine Ruhe lassen. All das zählt er auf und lacht dabei. So schlimm kann’s also nicht sein. Bevor er aussteigt, tritt Friedrich noch einmal an uns heran und erzählt, dass er diese Strecke sogar schon gefahren ist, als es noch gar keine S-Bahn gab. „Damals waren das noch diese schwarzen Loks“, erinnert er sich. Dann steigt er lachend und winkend aus.

ÖBB
Das ist Friedrich!

Peter, 31, Zugbegleiter

Ein paar Minuten später steigen auch wir aus und auf den stürmischen Bahnsteig in Stockerau. Zum Glück fährt gleich die nächste S-Bahn wieder nach Wien hinein, also müssen wir nicht im Wind warten. Auch hier machen wir es uns in einem alten Wagon gemütlich. Um mal kurz in Hipster-Slang zu verfallen: total vintage! Mit uns eingestiegen ist ein Mann in ÖBB-Jacke, das macht uns natürlich neugierig und wir belagern ihn. Er findet’s okay. Peter (31) ist Zugbegleiter in Nahverkehrszügen. Dass er heute mit der S-Bahn zum Dienst fährt, ist eine große Ausnahme, weil er eine andere Schicht als sonst hat. Normalerweise fährt er mit dem Auto zur Arbeit. Verständlich irgendwie. Wenn man den ganzen Arbeitstag im Zug verbringt, freut man sich wahrscheinlich über ein bisschen Abwechslung und Stille im eigenen Auto. Jedenfalls kümmert er sich um die Vorbereitung des Zugs, die Reinigung, um die Fragen und Anliegen der Kunden und Fahrgäste, die seine Hilfe beim Ein- und Aussteigen brauchen. Die Ticketkontrolle ist da nur ein kleiner Teil der Aufgaben.

S-Bahn ÖBB
Peter fährt sonst nie mit dem Zug zur Arbeit. (c) Ines Futterknecht

Rudi, 64, Augustinverkäufer

Als nächstes treffen wir Augustinverkäufer Rudi (64) am Meidlinger Bahnhof. Er denkt zuerst, wir wollen ihn beim Zeitungverkaufen filmen. Als wir mit ihm aber über seine Arbeit reden, erzählt er uns, dass er sonst nicht oft auf Bahnhöfen verkauft, sondern meistens am Naschmarkt, gemeinsam mit seiner Frau. Sie sind übrigens Wiens erstes Augustin-Pärchen, verkündet er mit stolzem Grinser. Zu den Stoßzeiten geht’s am Bahnhof schon mal stressig zu für Rudi, besonders in der Früh, wenn die Leute in die Arbeit fahren. Die meisten haben dann natürlich keine Zeit, um stehen zu bleiben und sich von Rudi eine Zeitung aufschwatzen zu lassen. Bei der zweiten Rushhour nach der Arbeit sind da viele entspannter und kaufen ihm eher eine ab. Auch Rudi ist ohne Auto bekennender S-Bahn-Fahrer: Zum einen wohnt er in Ebreichsdorf und fährt zum Arbeiten nach Wien. Zum anderen fährt er oft nach Mödling, weil sein Vater seit zwei Jahren ein Pflegefall ist und dort lebt.

S-Bahn Wien
Rudi verkauft seinen Augustin normalerweise am Naschmarkt.

Wir tauschen noch ein wenig Smalltalk aus und schütteln uns schließlich beherzt die Hand mit dem Versprechen, uns bald einmal für eine andere Reportage wiederzusehen. Mittlerweile waren wir an die sieben Stunden mit der S-Bahn kreuz und quer durch Wien unterwegs. Also wird es langsam Zeit für uns, in nicht bewegte Räume zurückzukehren und kurz mal zu verschnaufen. Denn eins ist sicher: In der Wiener S-Bahn schwirren unzählige Geschichten durch die Wagons. Die einen warten richtiggehend darauf, gehört zu werden. Andere muss man erst einmal rauskitzeln und wieder andere wollen partout nicht erzählt werden. Auch gut. Manchmal reicht es uns auch, einfach aus dem Fenster zu sehen wie Friedrich.

Ihr wollt noch mehr Interviews von uns? Wir haben mit dem Sänger von Naked Lunch gesprochen. Und wenn ihr noch mehr von den People of S-Bahn sehen wollt, dann checkt doch mal den Instagram-Schwerpunkt der ÖBB dazu ab.