Stadtkind vs. Landkind: Der Auszug von zuhause

Viktoria Klimpfinger Vom 09.02.2020
Unsere Redaktion ist so vielfältig wie sie wunderschön ist – das haben objektive, unabhängige Studien ergeben. Daher tummeln sich in der Wiener Burggasse sowohl eingeborene Stadt- als auch „zuagraste“ Landkinder. Und die sind sich nicht immer einig. Weil wir gerne zündeln, fachen wir den Stadt-Land-Battle in dieser Kolumne mit vollem Bewusstsein an. Dieses Mal diskutieren das Stadtkind und das Landkind über ihren Auszug aus dem Elternhaus.
Stadtkind Landkind Auszug

Von zuhause auszuziehen, das kann eine bewusste Entscheidung zur Abnabelung sein, aber auch eine Notwendigkeit, wenn man in einem kleinen Ort wohnt, aber in der Großstadt studieren will. Da haben unser Wiener Stadtkind und unser Steirer Landkind natürlich ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Also lassen wir sie mal wieder miteinander diskutieren.

Viki, das Stadtkind

Ihr Landkinder inszeniert euch ja generell ganz gerne als die entbehrungserprobten harten Knochen, die die verweichlichten Stadtpflanzen für ihr betongepflastertes Dasein belächeln. Wir mussten in Wien nie stundenlang zu Fuß den Berg hinauf, um nach dem Fortgehen heimzukommen, wir mussten nie panisch zum Schulbus hechten, weil der nächste erst in drei Wochen fährt, also wissen wir in euren Augen offenbar nicht, wie das echte Leben läuft. Damit macht ihr eure Not gerne zur Tugend. Speziell in Sachen Auszug kann ich mir schon vorstellen, dass es als junger Mensch ziemlich schwer sein muss, sich zwischen dem schützenden Kokon des Elternhauses und der eigenen Ausbildung zu entscheiden – wobei das für manche sicher auch eine willkommene Ausrede ist, um sich endlich aus dem engen Tal hinauszuwagen, oder?

Weil ich mich nach der Schule dazu entschieden habe, an der Uni Wien und nicht in einem anderen Bundesland oder im Ausland zu studieren, hat sich für mich diese Frage nicht gestellt. Raus von zuhause und endlich auf eigenen wackeligen Füßen stehen, wollte ich aber dennoch, nur habe ich es nicht besonders weit geschafft: Ich steige in den Bus und bin in ein paar Minuten wieder da, wo ich meine ersten Gehversuche gemacht, meinen ersten Zahn verloren, zum ersten Mal mein gebrochenes Herz in einen Polster geheult habe. Hach. Tatsächlich hatte ich besonders in den Anfängen meines Alleinewohnens das Gefühl, dass ich öfter bewusst zuhause mit meiner Familie rumhänge, als ich es getan hätte, wenn ich noch bei ihnen wohnen würde.

Ich spüre schon, wie du jetzt süffisant grinst und “Hotel Mama” vor dich hinmurmelst. Nein, so war es nicht – Wäsche gewaschen habe ich eigentlich von Anfang an selbst (vor allem auch deshalb, weil es ziemlich schwer ist, einen ganzen Korb Dreckwäsche in den Öffis zu transportieren, aber das mit dem Führerschein ist ein anderes Thema). Selbstständigkeit üben, dafür muss man also nicht erst Bundesländergrenzen überschreiten. Vielleicht fällt es aber ein bisschen leichter, wenn man weiß, dass man notfalls in kurzer Zeit wieder in den schützenden familiären Schoß zurückkriechen kann. Und ich muss gestehen: Ab und zu habe ich das auch Jahre nach meinem Auszug gemacht, wenn ich etwa krank war, Liebeskummer hatte oder ich wieder einmal eine meiner großen studentischen Sinnkrisen durchgemacht habe. Da hatte ich einen großen Vorteil zu meinen Kommilitoninnen und Kommilitonen aus den anderen Bundesländern: Wenn sie am Wochenende zurück in den Heimatort gondelten, sind sie oft schon zu den Vorlesungen am Freitag mit Sack und Pack erschienen, mussten früher gehen, um noch den letzten Zug zu erwischen und dann endlich, nach stundenlangem Getingel, daheim anzukommen. Klingt ziemlich anstrengend, oder? Wie war das für dich, liebes Landkind?

Julia, das Landkind

Bei uns am Land geht’s oft schon viel früher los: Das erste Mal ziehen manche bereits mit 14 Jahren aus, wenn sie in eine höhere Schule oder Berufsschule gehen möchten, die zu weit entfernt ist, um hin und her zu pendeln. Zwar kann man ein Internatszimmer nicht unbedingt die eigenen vier Wände nennen, aber mehr oder weniger auf sich gestellt und herausgerupft aus dem familiären Umfeld ist man dennoch. Also macht man so schon sehr früh Bekanntschaft mit den Heimatausflügen am Wochenende, die du beschrieben hast. Schlimmer als der Freitag, an dem man mit Sack und Pack nachhause gondelt, sind aber meiner Meinung nach eher die grauenhaften Sonntage, wenn man die frisch gewaschene Wäsche wieder einpackt, sich von Familie, alten Freundinnen und Freunden, dem eigenen, vielleicht inzwischen für andere Zwecke umfunktionierten Jugendzimmer verabschiedet und wieder Richtung Internat aufbricht.

Ich selbst konnte das anfangs noch umgehen, weil es zum Glück einen Bus gab, der von mir daheim nur 45 Minuten bis zu meiner Schule brauchte und nicht nur alle drei Wochen fuhr, wie du „verweichlichte Stadtpflanze“ behauptest. Jedenfalls bin ich dann aber doch mit 17 Jahren nach Wien in meine erste eigene Wohnung gezogen, weil ich meine Schule hier abschließen wollte. Diese frühe Selbstständigkeit bedeutet einerseits natürlich erstmal Freiheit, andererseits aber auch, dass man schnell lernen muss, Verantwortung zu übernehmen. Mal eben schnell zu den Eltern fahren, weil man sich am Ende des Monats die Spaghetti nicht mehr leisten kann oder krank ist und sich betüdeln lassen will, das gibt’s dann nicht.

Zum Glück sind die Landkinder in der Stadt oftmals ziemlich gut vernetzt. Viele meiner Freundinnen vom Land sind nach und nach ebenfalls nach Wien gezogen und so fand sich mein Freundeskreis vom Land schnell in der Stadt wieder. Oft haben wir uns nicht nur gegenseitig über das anfängliche Heimweh hinweggetröstet, sondern einander sogar Jobs empfohlen und weitervermittelt. Vom Promoten über Event-Kellnern bis hin zum heiß begehrten Babysitten haben wir Landkinder nichts ausgelassen, um uns das Leben in der Stadt leisten zu können. Während du dich also von deiner Mami gesund pflegen hast lassen, habe ich wahrscheinlich gerade meinen ersten Steuerausgleich eingereicht und Supermarkt-Coupons gesammelt.

Aber bevor du jetzt gleich wieder anfängst damit, dass wir Landkinder uns so gerne als die “entbehrungserprobte harte Knochen” inszenieren (ist “entbehrungserprobt” überhaupt ein richtiges Wort?), muss ich zum Abschluss schon sagen, dass ich meine Auszug nie bereut habe. Natürlich war es am Anfang nicht immer leicht, aber so habe ich gelernt, mich neuen Situationen zu stellen und offen zu sein. Denn bleibt man ein Leben lang am exakt selben Ort, läuft man schon mal Gefahr, sich Neuem oder Anderem zu verschließen und in eine gewisse Engstirnigkeit zu verfallen.

Was für unser Landkind in Wien anfangs auch eine große Umstellung war, war das Grüßen. Und die geballte Häufigkeit des Wortes „Ur“.

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