Dumpstern: Frisches Essen aus der Mülltonne
Jährlich landet rund ein Drittel aller Lebensmittel weltweit im Müll. Doch vieles davon ist noch genießbar, sogar original verpackt. Warum also nicht einfach zugreifen? Wir haben eine Dumpster Diverin beim Mülltauchen in Wien begleitet und in die Dumpster-Szene in Graz hineingeschnuppert.
„Aus meinem Freundeskreis weiß eigentlich kaum jemand, dass ich dumpstern gehe“, erzählt mir Sophie*, als sie mich mitnimmt auf Shoppingtour durch die Mistkübel der Supermärkte. „Ich will nicht, dass die Leute denken, ich mache das, weil ich mir das Essen nicht leisten kann.“ Sie sieht mich eindringlich an. Ich nicke, verdutzt darüber, dass das Dumpstern oder Containern trotz wachsender medialer Aufmerksamkeit in den letzten Jahren für viele offenbar immer noch nicht mehr ist als bloß „Mistkübelstirdeln“.
Vorsicht ist die Mutter der Porzellantonne
Es ist 23 Uhr. Wir machen uns auf den Weg durch das aufgeheizte, schlafende Wien. Sophie ist zwar ziemlich erschöpft von ihrem Job als 24-Stunden-Hilfe, aber trotzdem geht sie lieber nachts dumpstern, wenn niemand mehr auf der Straße ist, der sie dabei beobachten könnte. Wichtig sei ihr außerdem, „nicht zyklisch“ zu gehen, also nicht immer am selben Tag zur selben Uhrzeit denselben Supermarkt anzusteuern. Das senke die Möglichkeit, erwischt zu werden. Sophie wirkt sehr vorsichtig, was das Containerstöbern angeht. Fast schon nervös. Erwischt oder angepöbelt wurde sie deswegen aber noch nie.
Im Frühjahr hat die 24-jährige Sophie von der Wirtschafts- in die Sozialbranche gewechselt. Während dieses Übergangs war sie drei Wochen lang arbeitslos und hatte endlich Zeit, sich mit einem Thema zu befassen, dass sie schon länger beschäftigt: Verschwendung. Rund ein Drittel der weltweit produzierten Lebensmittel landet jährlich auf dem Müll. Das sind 1,3 Milliarden Tonnen. Allein eine Million Tonnen Essen wirft Österreich im Jahr weg. Durchschnittlich 157.000 Tonnen davon sind angebrochene und original verpackte Lebensmittel aus heimischen Haushalten.
Wühlen in der „rechtlichen Grauzone“
Privater Müll ist aber nicht das vorrangige Ziel der Dumpster-Szene. Hier geht es um die Lebensmittel, die die Supermärkte wegwerfen. 75.000 Tonnen sind das jedes Jahr. Davon pickt man sich beim Dumpstern natürlich diejenigen raus, die noch zum Verzehr geeignet sind. Und das sind immer wieder erstaunlich viele, erzählt Sophie, während wir den Supermarkt ansteuern, bei dem sie am liebsten auf Lebensmittelsuche geht. Dort ist der Müllcontainer nämlich frei zugänglich. Den Generalschlüssel, der die meisten Abfallräume aufsperrt, hat sie zwar auch. „Mir ist es aber lieber, dass ich zu öffentlichen Mülltonnen gehe“, meint sie. „Angeblich ist es ja illegal, dass man den Schlüssel hat. Aber es kann doch nicht illegal sein, frei zugänglichen Müll mitzunehmen.“
Das klingt natürlich erst mal logisch. So einfach ist es aber dann doch nicht. Die vage Bezeichnung, die die Dumpster-Szene vor sich herträgt wie ein Schutzschild, ist die „rechtliche Grauzone“. Darin bewege man sich anscheinend. Zunächst wirkt das zwar erst mal beruhigend, als wäre man losgelöst im juristischen Niemandsland. Schließlich wirft es aber doch mehr Fragen auf, als es beantwortet. Doch auch, wenn man endlich Antworten findet, klärt sich der Nebel nicht unbedingt: Bei der MA48 bekomme ich die Auskunft, dass der Müll des Supermarktes rechtlich gesehen noch Eigentum des Supermarktes ist.
„Was niemandem gehört, kann man nicht stehlen.“
Aber Gerhard Jarosch, Sprecher der Staatsanwaltschaft Wien, sagt gegenüber derStandard.at: „Müll ist eine herrenlose Sache.“ Und was niemandem gehört, kann man auch nicht stehlen. Damit etwas als Diebstahl gewertet wird, muss außerdem vorsätzlich gehandelt worden sein. „Vorsatz in diesem Zusammenhang bedeutet bereits, es ernstlich für möglich zu halten, etwas zu stehlen. Bei Müll liegt das wahrscheinlich nicht vor, da niemand davon ausgeht zu stehlen, wenn er etwas aus dem Abfall nimmt“, sagt Hannes Schütz vom Institut für Strafrecht an der Universität Wien gegenüber der Wiener Zeitung. Stimmt. Auch für Sophie wäre es absolut absurd, ihr Diebstahl zu unterstellen, nur weil sie ein paar Bananen aus dem Müll rettet, die sonst eh keiner mehr will. Es kommt aber immer, wie bei so vielen Dingen, auf den Einzelfall an. Also doch lieber zurück zur „rechtlichen Grauzone“. Und solange man sich nicht gewaltsam irgendwo Zutritt verschafft und mehr Müll hinterlässt, als man mitnimmt, hätten ja eigentlich alle Beteiligten was davon.
Hals über Kopf im Mistkübel
Als wir bei Sophies bevorzugtem Supermarkt ankommen, sieht sie sich erst einmal gründlich um. Sie deutet auf einen kleinen LKW, der auf der Straße neben dem Supermarkt mit Blick auf den Müllcontainer parkt und das Licht eingeschaltet hat: „Gehen wir lieber noch ein Stückchen vor und checken die Lage“, meint sie. Der LKW ist allerdings unbesetzt und auch sonst ist nichts los auf der Straße. Also kramt Sophie eine Stirnlampe, Handschuhe und einige Einkaufsbeutel aus ihrem Rucksack – und los geht’s. Der Container, den wir ansteuern, sieht eigentlich ziemlich verloren aus, so alleine an der Rückwand des Supermarktes. Sophie öffnet ihn. Erst mal schlägt uns eine Mischung aus Mistgeruch und Hitze entgegen. Vielleicht war es nicht die beste Idee, an einem der heißesten Tage des Jahres dumpstern zu gehen, überlege ich noch, während Sophie schon die ersten abgepackten Lebensmittel herauszieht: Karotten, Salat, sogar Maiskolben. „Der Müll, der in den Plastiktüten abgepackt ist, ist von der Feinkost. Da greife ich eigentlich nie hin“, erklärt sie.
Immer mehr Lebensmittel kommen zutage, die sich Sophie nicht wirklich gründlich ansieht, bevor sie sie in ihre Tüten legt. Eigentlich wirkt sie fast schon gehetzt. „Ich verbringe nie länger als 15 Minuten bei einem Container“, erzählt sie, während sie mit der einen Hand den Containerdeckel hält und mit der anderen den Müll durchleuchtet. Ihre Nervosität ist einfach zu groß, doch erwischt zu werden. „Zuhause sehe ich mir dann genau an, was noch genießbar ist und was auch ich wegschmeißen muss.“
Die Angst, erwischt zu werden
Aber warum die Panik, wenn man doch eigentlich nicht das Gefühl hat, etwas Falsches zu machen? „Naja, kennst ja die Wiener“, zuckt Sophie nur mit den Achseln. Sie will einfach nicht in die Situation kommen, erklären zu müssen, warum sie im Müll wühlt. Vielleicht weil sie sich doch nicht so sicher ist, was diese „rechtliche Grauzone“ angeht, vielleicht weil sie einfach keine Lust auf unnötige Diskussionen hat. Wahrscheinlich aber deshalb, weil sie nicht als „Mistkübelstirdlerin“ abgestempelt werden will.
Zum Großteil liegt Sophies Unsicherheit aber auch daran, dass sie alleine unterwegs ist. Ab und zu ist sie auch schon mal zu zweit mit einer Freundin losgezogen, aber solche Touren halten sich eher in Grenzen. „Man fühlt sich schon wohler zu zweit. Und traut sich auch mehr“, gibt sie zu. „Alleine komme ich mir manchmal schon komisch vor.“ Abgesehen davon, dass eine gewisse Grundnervosität ganz verständlich ist, wenn Sophie alleine, mitten in der Nacht in abgelegenen Gegenden unterwegs ist.
Zusammen ist man weniger allein
In Graz gibt es eine ganze Gruppe junger Leute, die seit Jahren ausschließlich von weggeworfenem Essen leben. Sie nennen sich „Robin Food“ und veranstalten ab und zu auf der Grazer Herrengasse ihren „Dumpstertisch“. Auf einem Heurigentisch verteilen sie gratis Essen, dass ihnen Dumpsterer zukommen lassen, denen ihre Ausbeute für sich alleine zu viel ist. Es ist so ziemlich der Inbegriff des Überflusses, wenn man schon nicht mehr weiß wohin mit dem Essen aus dem Müll. „Gratis Essen, bitte nehmen Sie!“, ruft eine der Robins den Leuten, die sich am Samstagmittag auf der Einkaufsstraße tummeln, zu, als ich sie im Mai besuche. Wie Sophie wollen auch die Robins lieber anonym bleiben.
Ein skurriles Bild, wie skeptisch sich manch einer kostenlosen Lebensmitteln nähert, der sein Geld gerade in drei Einkaufstüten investiert hat. Viele greifen aber auch einfach fröhlich zu. Bananen liegen da, Käsesemmeln und jede Menge Gebäck, Pulver für Salatdressings und sogar Konservendosen mit Bohnen, die wahrscheinlich eine längere Lebenswartung haben als wir alle zusammen. Die Robins erzählen mir, dass die Leute sie manchmal sogar fragen, ob sie selbst etwas herbringen können: „Wir sagen zwar ja, aber bitte nimm auch etwas von den Sachen hier mit. Wir wissen alle schon nicht mehr, wohin mit dem Essen. Wir sind alle übersättigt.“
In Graz dumpstert man gemeinsam
Vermutlich gibt es mittlerweile in fast jeder größeren Stadt eine Dumpster-Szene. Aber besonders in Graz dürften die Containertaucher untereinander sehr gut vernetzt sein. „Graz hat eine gute Szene“, sagen die Robins. „Wir haben gehört, dass sich auch schon mal an die zehn Leute zufällig bei einem Mistkübel treffen und die Sachen dann untereinander aufteilen.“ Dass trotzdem jeder mit einem vollen Beutel heimgeht, ist erstaunlich – und schockierend.
Nach einer guten Stunde ist der Dumpstertisch in Graz schon fast leer. Die Robins sind zufrieden. Es sind vor allem ältere Menschen, die gerne zugreifen und mit größter Entrüstung reagieren, wenn die Robins erzählen, dass all das Essen eigentlich, naja, Müll ist. „Das ist auch eine Generation, für die es komplett unverständlich ist, Essen wegzuschmeißen, weil sie nicht so viel hatten“, vermuten sie.
Harte Zeiten für die Robins?
Das Leben ausschließlich von Weggeworfenem beeinflusst natürlich auch maßgeblich, was die Robins essen. Man muss sich eben danach richten, was man gerade so findet, meinen sie. Wenn man eben mal kein Kaffeepulver findet, dann gibt’s die nächsten Tage eben keinen Kaffee. Oder man tauscht mit anderen aus der Community.
Im Sommer macht der Dumpstertisch immer Pause. Und leider haben auch die Robins sich inzwischen ein wenig aufgelöst. Die Ürbiggebliebenen sind aber zuversichtlich, dass sich im Herbst wieder genug Leute zusammenfinden.
Wie das Essen aus dem Müll das Essen auf dem Teller beeinflusst
Auch Sophie aus Wien könnte sich vorstellen, vom Dumpstern allein zu leben. Mit den Lebensmitteln aus einer Runde durch die Mülltonnen kommt sie schon ein, zwei Wochen gut aus. Allerdings will sie auf gewisse Dinge trotzdem nicht verzichten: „Wenn ich kein gutes Obst im Müll finde, will ich trotzdem meinen Apfel haben. Ich kaufe ergänzend ein.“ Obwohl sie sich also nicht nur aufs Dumpstern beschränkt, beeinflusst es Sophies Ernährung aber auch nachhaltig. Im wahrsten Sinne des Wortes. Denn prinzipiell ernährt sie sich so gut wie vegan. „Wenn ich selbst einkaufe, ist das fast nur Pflanzliches. Aber wenn ich eine Wurstsemmel beim Dumpstern finde, dann esse ich sie.“
Die Nachfrage im Supermarkt beeinflusst es sowieso nicht mehr, ob sie die Wurstsemmel isst oder nicht. Das ist ihr wichtig. Sie will kein Rädchen innerhalb des Verschwendungsmechanismus’ sein. „Wenn ich sie nicht esse, ist das Tier umsonst gestorben. Mir geht es immer um die Wertigkeit der Lebensmittel.“
Außerdem achtet Sophie beim Einkaufen stark auf Verpackungsfreiheit. Ihre Haferflocken holt sie sich zum Beispiel aus der Maßgreißlerei im zweiten Bezirk, in der man alles in selbst mitgebrachte Behältnisse abfüllen kann. Beim Dumpstern ist ihr das aber egal. „Abgepackt ist es ja schon. Wenn ich es nicht nehme und selbst esse oder jemandem anderen gebe, dann war auch die Umweltbelastung durch die Verpackung komplett umsonst.“
Übriggebliebenes „fairteilen“
Viele Tonnentaucher teilen ihr Essen mit anderen, weil die geretteten Lebensmittel für sie allein zu viel sind. Wenn beim „Dumpstertisch“ in Graz zum Beispiel etwas übrig bleibt, bringen es die Robins zu den sogenannten „Fairteilern“ von „Foodsharing„. Das sind kleine Kästchen in der Stadt, in die jeder etwas hineinstellen und von denen sich jeder frei bedienen kann. Auch Sofie macht das ab und zu in Wien, wenn ihr Tiefkühler übergeht und ihre Kästen voll sind. Meistens gibt sie das überschüssige gerettete Essen aber einfach einem guten Freund, der selbst nicht genug Geld hat.
Sophie und ich verlassen unsere Mülltonne schließlich mit drei gut gefüllten Beuteln voller Salatköpfen, Obst, abgepackten Brokkolis und Karotten. Das ist aber diesmal bloß eine kleine Ausbeute, erklärt sie mir am Weg in ihre Wohnung. Dort legt sie alle Lebensmittel auf ihrem Tisch auf und fotografiert sie. Jedes Mal dokumentiert sie ihre Ausbeute, um sich immer wieder vor Augen zu halten, wie sehr das System an dieser Ecke kränkelt. Ein paar verfaulte Äpfel aus der Packung muss sie auch selbst wegwerfen, die übrigen wäscht sie gründlich ab. Was sie nicht in den nächsten Tagen essen oder verkochen kann, friert sie ein. Den Rest gibt sie mir mit.
Wer hat Schuld?
Als ich meinen Einkaufsbeutel voller Essen aus dem Mistkübel durch die dunklen Straßen schleppe, überlege ich, wer eigentlich Schuld hat daran, dass wir mehr wegschmeißen, als wir essen können. Die Supermärkte? Die Konsumenten? Oder doch die Illuminati? Die Robins in Graz sehen das ambivalent. Natürlich stößt es sauer auf, dass laut ihnen einige Supermärkte ihren Mitarbeitern sogar verbieten, abgelaufenes oder zum Wegwerfen bestimmtes Essen mit nachhause zu nehmen. Andererseits werden aber durchaus zumindest 6.600 Tonnen dieser Lebensmittel an soziale Einrichtungen weitergegeben. Und den Supermarkt-Konzernen allein den schwarzen Peter zuzustecken, wäre wahrscheinlich auch zu kurz gegriffen. Immerhin reagieren sie ja auf die Nachfrage aus der Bevölkerung nach einem üppigen, stets frischen Angebot. So oder so: Zuhause mache mich erst mal über meine Ausbeute her. Schmeckt genauso gut wie gekauft, nur mit extra Karma-Punkten.
Ihr habt zu viel gekocht oder einkauft? Hier findet ihr eine Liste öffentlicher Fairteiler in Wien: https://foodsharing.at/?page=fairteiler&bid=13 und Graz: https://nachhaltig-in-graz.at/listen/foodsharing-fairteiler-in-graz-umgebung/
Wenn ihr gerne selbst nachhaltiger leben wollt, aber nicht wisst wie, haben wir ein paar Tipps, wie’s klappt. Außerdem zeigen wir euch, wo ihr beim Shopping in Wien auf die grüne Seite der Macht kommen könnt. Go green!
*Name von der Redaktion geändert